majasojref

21. Dez. 20215 Min.

Eine israelische Menschenrechtsanwältin erfährt die harte Wahrheit über das Politikerdasein

Aktualisiert: 5. Jan. 2023

Das war die Überschrift zu einem langen Interview, das am 4. November 2021 –
 
geführt von der Journalistin Shany Littman – in der englischen Ausgabe der liberalen
 
israelischen Tageszeitung Haaretz erschien.

Das Interview basierte auf mehreren Gesprächen, die die Journalistin mit der
 
Anwältin Gaby Lasky geführt hatte. Gaby Lasky sitzt seit Mai 2021 für die
 
linksliberale Partei Meretz im israelischen Parlament, der Knesset. Während Lasky
 
zu Beginn des Interviews noch vorsichtigen Optimismus und Entschlossenheit
 
geäußert hatte, überwog zum Schluss ihre Skepsis. Das hatte unter anderem damit
 
zu tun, dass der israelische Verteidigungsminister Gantz sechs palästinensische
 
zivilgesellschaftliche und Menschenrechtsorganisationen zu terroristischen
 
Organisationen erklärt hatte. Sie wisse nicht, erklärte Lasky, wie lange Meretz in
 
einer Koalition bleiben könne, die Entscheidungen dieser Art treffe. „Die Existenz
 
dieser Regierung ist wichtig, aber sie darf nicht auf Kosten der Menschenrechte und
 
auf Kosten der Option einer Zweistaatenlösung gehen.“ Sie freue sich zwar, dass
 
Gesundheitsminister Nitzan Horowitz und Umweltministerin Tamar Zandberg, beide
 
Meretz-Mitglieder, diese Entscheidung heftig kritisiert hätten, doch Deklarationen
 
reichten nicht aus.

Als Menschenrechtsanwältin im Parlament

Gaby Lasky stand bereits mehrfach auf Wahllisten von Meretz, hatte es aber nie in
 
die Knesset geschafft. Auch diesmal belegte sie den achten Platz der Wahlliste und
 
wurde zunächst nicht Mitglied des Parlaments. Doch dann wurden drei Meretz-

Kandidat:innen zu Minister:innen in der neuen Regierung ernannt, machten ihre

Parlamentssitze frei und ebneten so den Weg für Nachrücker:innen. Aber der Freude
 
über das Erreichte folgte die Ernüchterung: „Ich bin seit mehr als 20 Jahren
 
Menschenrechtsanwältin, das ist Teil meiner Identität. Jetzt beschäftige ich mich
 
zwar als Knesset-Mitglied noch immer mit Menschenrechten, aber das ist nicht
 
dasselbe. Es handelt sich nicht nur um eine Veränderung der Mittel, sondern auch
 
um eine der Wahrnehmung. Ich dachte, dass es durch die Knesset möglich sein
 
würde, Gesetze und Politik zu ändern, anstatt sich mit Einzelfällen zu befassen, aber
 
von innen sieht es nicht so einfach aus."

Ein Bespiel, das in dem Artikel geschildert wird, betrifft eine Anhörung des
 
Ausschusses für Außen- und Sicherheitspolitik. Gaby Lasky hatte zuvor – nach
 
einem Angriff von jüdischen Siedler:innen auf eine palästinensische Ortschaft, in
 
dessen Verlauf sechs Palästinenser:innen verletztet wurden, einschließlich eines
 
dreijährigen Kindes – Patronenhülsen und Hülsen von Tränengasgranaten
 
gesammelt, die sie dem Ausschuss präsentieren wollte. Doch dazu kam es nicht. Der
 
Vorsitzende des Ausschusses, ein Abgeordneter der liberal-konservativen Partei
 
Yesh Atid, erlaubte keine Debatte über die Frage, wie effektiv die israelischen
 
Sicherheitsdienste angesichts der von Siedler:innen ausgeübten Gewalt gegen
 
Palästinenser:innen sind. Stattdessen meldeten sich drei Abgeordnete der dem
 
ermordeten Rabbiner Meir Kahane nahestehenden Partei Religiöse Zionisten
 
lautstark und mit Anschuldigungen gegen Lasky zu Wort.
 

 
Die 54 Jahre alte Gaby Lasky wurde in Mexiko geboren, in das ihre Großeltern vor
 
dem Zweiten Weltkrieg aus Osteuropa immigrierten. Sie kam zum ersten Mal als
 
Austauschschülerin nach Israel und entschied sich zu bleiben. Ihre Mutter und eine
 
Schwester folgten ihr, der Vater und die zweite Schwester blieben in Mexiko.
 
Antworten auf ihre Fragen zur israelischen Besatzung und dem Verhältnis von Staat
 
und Religion fand sie in der Bewegung für Bürger:innenrechte und Frieden (Raz),
 
einer Vorläuferin von Meretz. Nachdem Meretz 1992 in die Regierung von Yitzhak
 
Rabin eingetreten war, wurde sie Assistentin des Meretz-Abgeordneten David (Dedi)
 
Zucker und war mit der damaligen Parteivorsitzenden Shulamit Aloni und dem
 
späteren Vorsitzenden Yossi Sarid befreundet. Lasky sagt, sie stelle sich immer vor,
 
wie die beiden, die bereits verstorben sind, in der Knesset hinter ihr säßen und sie
 
beobachteten.

Lasky in der Bennett-Lapid-Koalition
 

Sie frage sich auch oft, ob die beiden in diese jetzige Regierung eingetreten wären.
 
Aber die Situation sei nicht die gleiche. 1992 sei zwar die ultraorthodoxe Partei Shas
 
Teil der Regierungskoalition gewesen, aber die Arbeitspartei hätte zur selben Zeit
 
über 42 und Meretz über 12 Sitze verfügt. „Heute haben wir 15 Jahre Netanjahu-
 
Regierung hinter uns und die Alternative, wenn Meretz nicht in die Regierung
 
eingetreten wäre, wäre die Bildung einer rechten, ultra-orthodoxen, kahanistischen,
 
messianischen Regierung gewesen.“ – „Es gibt ganz klare ideologische Differenzen,
 
wir überspielen sie auch nicht, so dass es zu einem legitimen Diskurs wird, von dem
 
unsere Positionen ein Teil sind. Wären wir nicht ein Teil der Regierung, wäre alles
 
noch schlimmer geworden – in Bezug auf die Besatzung, in Bezug auf die
 
wirtschaftliche Lage aber auch in Bezug auf die Menschenrechte.“
 
In den ersten Gesprächen mit der Haaretz-Journalistin äußerte Lasky noch den
 
Wunsch, sich einmal mit Innenministerin Ayelet Shaked zu treffen, die ständig
 
versuche, Gesetze durchzubringen, die die Lage für Asylsuchende erschweren
 
sollen. Sie würde ihr gerne über ihre Großeltern erzählen, die in ein völlig fremdes
 
Land kamen und dort die Chance erhielten, ein freibestimmtes Leben aufzubauen.
 
Im letzten Gespräch jedoch bittet sie die Journalistin, diese Passage zu streichen.
 
Das bedeutet allerdings nicht, dass es in ihrem Engagement in der Knesset nicht zu
 
ungewöhnlichen Kooperationen kommt. So hat sie etwa eine enge Arbeitsbeziehung
 
zu Idit Silman aufgebaut, die wie Shaked der Partei Yamina angehört und in dieser
 
als Fraktionsvorsitzende amtiert. „Sie ist eine der Personen, die ich in der Knesset
 
am meisten bewundere, und wir arbeiten in vielen Fragen zusammen. Sie ist sehr
 
gründlich, sachlich und respektvoll." Auch mit Moshe Arbel, einem Abgeordneten der
 
sich in der Opposition befindlichen ultraorthodoxen Partei Shas, arbeitet sie eng
 
zusammen. „Er ist heute vielleicht das einzige Knesset-Mitglied, das sich mit den
 
Rechten von Gefangenen und Häftlingen beschäftigt und Gefängnisse besucht. [...]
 
Wir haben dem Ministerausschuss für Gesetzgebung einen gemeinsamen
 
Gesetzesentwurf vorgelegt, der die Höchstdauer der Haft bis zum Abschluss eines
 
Gerichtsverfahrens vor einem Amtsgericht verkürzt.“


 
Lasky ist betrübt, dass Meretz noch immer das Image einer privilegierten
 
aschkenasischen Partei anhaftet, von Personen bestimmt, die selbst oder deren
 
Vorfahren aus Europa einwanderten: „Die gesamte Linke muss sich fragen, wie
 
diese Kluft entstanden ist und was man dagegen tun kann. Wenn wir keine
 
Verbindung zu den einzelnen Communities haben, zu den Menschen in der
 
Peripherie des Landes und in den Entwicklungsstädten, dann bedeutet die
 
Vertretung in der Knesset nichts. Das hat auf lange Sicht viel mehr Einfluss als die
 
Gesetzgebung."


 
Die Situation in der besetzten West-Bank bezeichnet Lasky als Apartheid: „Wenn
 
man an einem Ort unterschiedliche Gesetze für zwei verschiedene
 
Bevölkerungsgruppen anwendet, ist das genau die Definition von Apartheid." Lasky
 
macht dies an ihrer Mandantin Ahed Tamimi deutlich, einer jungen Palästinenserin,
 
die im Jahr 2017 einen israelischen Soldaten geohrfeigt hatte: „Tamimi wurde zu
 
einer achtmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt, weil sie einen bewaffneten Soldaten
 
geschlagen hat. Dies ist der Fall einer Minderjährigen, die die gleiche Zeit wie Elor
 
Azaria verbüßt hat." Elor Azaria hat als israelischer Soldat einen palästinensischen
 
Angreifer erschossen, der bereits überwältigt und verwundet am Boden lag.
 
Was hat sich für sie privat geändert seit ihrem Einzug in die Knesset? Nicht viel, sagt
 
Lasky, sie gehe nach wie vor im Supermarkt einkaufen und hole ihre 12-jährigen
 
Zwillinge von der Schule ab. Sie achte allerdings beim Autofahren jetzt sehr viel
 
mehr auf die Einhaltung der Verkehrsregeln.


 
Zum Schluss des Interviews wird Gaby Lasky gefragt, ob sie es bereue, sich auf das
 
Abenteuer Knesset eingelassen zu haben. „Ich vermisse es, Anwältin zu sein, denn
 
ich bin Verteidigerin mit Leib und Seele. Ich bin noch nicht in einem Stadium, in dem
 
ich Schlussfolgerungen ziehen kann, dafür ist es noch zu früh. Aber ich hoffe, dass
 
ich es nicht bereuen werde, dass es letztendlich die richtige Entscheidung war. Ich
 
hoffe vor allem, dass wir jetzt mindestens vier Jahre Zeit haben werden. Im Moment
 
habe ich nichts anderes vor als die Knesset und investiere meine Zeit voll und ganz
 
in diese Aufgabe."

Das Interview im Original ist hier nachzulesen. Es wurde von von Jörn Böhme zusammengefasst.

Am 13.1.2022 ist Gaby Lasky zusammen mit MK Mossi Raz in einem Zoom-Webinar des NIF Deutschland zu Gast. Mehr Informationen über die Veranstaltung und die Anmeldung finden sie hier.

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