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FAQs zur Aufhebung der Angemessenheits-Klausel
Aktualisiert: 15. Sept.
Am 24.7.2023 hat das israelische Parlament mit den Stimmen der Regierungskoalition die Aufhebung der sogenannten Angemessenheits-Klausel beschlossen. Die Opposition hat unter "Schande"-Rufen den Plenarsaal verlassen und die Abstimmung boykottiert. Hier haben wir die Antworten auf die wichtigsten Fragen gesammelt:
*aktualisiert am 15.9.2023*
Was ist passiert? Was ist die Angemessenheits-Klausel? Trotz wochenlanger Proteste und Streiks hat die israelische Regierung am 24.7.2023 die Aufhebung der„Angemessenheits-Klausel“ beschlossen und damit das erste Gesetz zur Schwächung der Rechtsstaatlichkeit verabschiedet. Das jetzt beschlossene Gesetz nimmt eine Änderung an einem der israelischen Grundgesetze („Basic Laws“) zur Justiz vor und beseitigt die seit Staatsgründung geltende Befugnis des Obersten Gerichtshofes, Verwaltungsentscheidungen außer Kraft zu setzen, wenn diese „unangemessen“ sind. Der Standard der „Angemessenheit“ bezieht sich hier auf die Frage, ob politische Entscheidungen das Interesse und Wohl der Allgemeinheit genügend berücksichtigen. Im israelischen System, das keine Verfassung, keine zweite Parlamentskammer und kein Präsidialsystem kennt, ist die „Angemessenheits-Klausel“ ein wichtiges Element der Gewaltenteilung, das Korruption unterbinden und verhindern soll, dass politische Entscheidungen nur zugunsten Einzelner getroffen werden.
Was sind Beispiele für die Anwendung der Angemessenheit-Klausel?
Schutz von Klassenzimmern in der Grenzregion zum Gazastreifen: Im Jahr 2007 beschloss die Regierung, nur bestimmte Klassenzimmer als Schutzräume gegen Raketenangriffe aus dem Gazastreifen zu befestigen. Gegen diese Entscheidung wurde vor dem Obersten Gerichtshof Berufung eingelegt. Angesichts der großen Zahl von Kindern, die dem Raketenbeschuss ausgesetzt sind, hielten die Richter:innen die Entscheidung für "unangemessen" und erklärten, die Regierung müsse alle Klassenzimmer in diesen Schulen verstärken.
Die Ernennung von Aryeh Deri zum Gesundheits- und Innenminister: Im Januar 2023 wollte Netanjahu den Vorsitzenden der Shas-Partei Aryeh Deri als Minister in sein Kabinett berufen. Der Oberste Gerichtshof untersagte ihm dies mit der Begründung, seine Ernennung sei "in höchstem Maße unangemessen". Deri war zuvor dreimal wegen krimineller Vergehen (Steuerhinterziehung, Korruption, Bestechung, Betrug) verurteilt worden.
Palästinensische Teilnahme an der gemeinsamen Gedenkfeier: In diesem Jahr verweigerte Verteidigungsminister Yoav Gallant Dutzenden von Palästinenser:innen die Einreise nach Israel, um an der jährlichen gemeinsamen Gedenkfeier der Combatants for Peace teilzunehmen. Gallant begründete dies mit "Sicherheitsbedenken". Das Gericht entschied, das Sicherheitsrisiko sei nicht nachgewiesen und verwies auf die große Zahl von Einreisevisa an Palästinenser:innen aus den besetzten Gebieten, die in Israel zu arbeiten oder aus anderen Gründen einreisen.
Warum will die Regierung die Angemessenheits-Klausel abschaffen?
Die Befürworter:innen des Justizumbaus (allen voran die Abgeordneten Yariv Levin von Likud und Simcha Rothman von der Partei des Religiösen Zionismus) argumentieren, dass die Klausel den Richter:innen gegenüber dem gewählten Parlament zu viel Macht verleihe. Für sie ist die Abschaffung „Angemessenheits-Klausel“ nur eines der Elemente eines Gesetzespaketes, das darauf abzielt, die Macht des Obersten Gerichtshofes zu beschneiden. Dabei stellt der Oberste Gerichtshof im israelischen System eine wichtige Kontrollinstanz zum Parlament dar, es gibt sonst keine zweite Kammer, keine Verfassung und kein Präsidialsystem, die für demokratische „Checks and balances“ sorgen könnten.
Tatsächlich sind die sogenannten Justizreformen für die in Teilen rechtsextreme Regierung nur ein Mittel zum Zweck. Die Vertreter:innen der Siedlerbewegung in dieser Regierung wollen das völkerrechtswidrig besetzte Westjordanland annektieren, ohne vom Obersten Gerichtshof behindert oder aufgehalten zu werden. Die meisten Teilnehmenden einer Demonstration für den Justizumbau letzte Woche kamen aus den Siedlungen und einige trugen Schilder, auf denen anstelle von "demo-cratia" (Demokratie), "demo-graphia" (Demographie) oder "theo-cratia" (Theokratie) zu lesen war.
Wichtig zu erwähnen ist auch, dass Netanjahu eine persönliche Motivation zur Abschaffung der „Angemessenheits-Klausel“ hat, da er nach wie vor wegen Korruption angeklagt ist. Er möchte etwa die Generalstaatsaanwältin Gali Baharav-Miara entlassen können, ohne dass die Entscheidung von dem Obersten Gerichtshof revidiert werden kann.
Wie geht es jetzt weiter?
Netanjahu könnte die Generalstaatsanwältin entlassen. Netanjahus Kommunikationsminister Shlomo Karhi hat zu Protokoll gegeben, dass das Einzige, was Netanjahu an Baharav-Miaras Entlassung hindert, die Angemessenheits-Klausel ist. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig die Angemessenheits-Klausel im israelischen System ist, um Willkür und Korruption bei Personalentscheidungen der Exekutive zu verhindern. Die Generalstaatsanwältin vertritt bei den Anhörungen vor dem Obersten Gerichtshof nicht wie üblich die Regierung sondern hat sich gegen die Aufhebung der Angemessenheits-Klausel ausgesprochen.
Das verabschiedete Gesetz wird seit dem 12.9.2023 vor dem Obersten Gerichtshof verhandelt. Beim Obersten Gerichtshof Israels sind insgesamt acht Petitionen gegen das Gesetz zur Aufhebung der Angemessenheits-Klausel eingegangen. Darunter ist auch eine Petition von 38 Bürger- und Menschenrechtsorganisationen, die von der vom NIF geförderten Association for Civil Rights in Israel (ACRI) angeführt wird. Manche der Petitionen beanstanden verfahrensrechtliche Fragen, zu der Art und Weise, wie die regierende Koalition das Gesetz in der Knesset verabschiedet hat. Andere stellen inhaltliche Forderungen, bezüglich der Befugnisse des Parlaments und des Obersten Gerichtshofs, sowie des Verhältnisses zwischen den Behörden, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und anderen zu berücksichtigenden Aspekten. Die Petitionen werden seit dem 12.9.2023 vor dem Obersten Gerichtshof verhandelt. Die Anhörungen könnten sich Wochen oder sogar Monate hinziehen. Noch ist ungewiss, ob das Gericht das neue Gesetz für ungültig erklären und damit eine Verfassungskrise auslösen oder ob es das Gesetz zulassen wird, um eine solche Krise zu vermeiden.
Die Gewalt gegen Protestierende könnte weiter zunehmen. In sozialen Medien kursieren bereits Videos, die zeigen, wie die Polizei in Israel immer brutaler gegen friedliche Demonstrierende vorgeht. Dabei setzt die Polizei Taktiken ein, die z. T. seit Jahren gegen Palästinenser:innen im besetzen Westjordanland zum Einsatz kommen, wie z. B. „Skunk water“-Kanonen. Außerdem wächst die Sorge, dass die Netanjahu-Regierung den Druck auf die Strafverfolgungsbehörden zur Unterdrückung der Proteste erhöhen wird. Generalstaatsanwältin Baharav-Miara hat Netanjahu wiederholt vor jeglicher politischen Einmischung in die Reaktion der Polizei auf Massendemonstrationen gewarnt. Besorgniserregend sind auch Fälle von Selbstjustiz wie im Falle eines Autofahrers, der in eine regierungskritische Demonstration in der Nähe von Ra’anana raste und dabei drei Menschen verletzte.

Welche Folgen wird der Justizumbau für Israel haben?
Wirtschaftlicher Schaden: Seit der Parlamentsentscheidung zur Abschaffung der Angemessenheits-Klausel hat der israelische Schekel erheblich an Wert verloren und Morgan Stanley hat die Kreditwürdigkeit des Landes herabgestuft. Bereits jetzt ergreifen etwa 70 % der israelischen Start-ups Maßnahmen, um ihren Standort ganz oder teilweise zu verlagern. Große Unternehmen wie Tnuva streiken massenhaft. Die Gewerkschaft Histadrut erwägt die Ausrufung eines Generalstreiks.
Beschädigung internationaler Beziehungen: Der kompromisslose Justizumbau durch die israelische Regierung belastet die Beziehungen zum wichtigsten Partner Israels, den USA: US-Präsident Biden hat gewarnt, dass dieses Gesetz Israels besonderen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten schaden kann und betont, dass ein Konsens erforderlich ist, um das Verfassungssystem zu ändern.
Gefährdung von Israels Sicherheit: Das rücksichtslose Vorgehen der aktuellen Regierung spaltet Israel und gefährdet damit die Sicherheit des Staates: So hatten zehntausende Reservisten der israelischen Armee angekündigt, dass sie im Falle der Abschaffung der Angemessenheits-Klausel den Dienst verweigern würden. Im bisher aufsehenerregendsten Fall hatte fast ein ganzes F-15-Kampfjet-Reservistengeschwader erklärt, dass es einen bevorstehenden Trainingstag boykottieren werde. Mitglieder der Netanjahu-Regierung reagierten darauf mit Verachtung und erklärten, dass die Weigerung der Reservisten die wahre Bedrohung für die israelische Demokratie darstelle.