Die Regierungspolitik spaltet Israel. Die Linke Talia Sasson und der Nationalist Yoaz Hendel streiten über die Frage, welcher Weg für das Land richtig ist.
Interview: Lea Frehse
Das komplette Interview kann auf zeit.de oder hier gelesen werden:
Für Israels rechtskonservative Regierung lief es in den vergangenen Monaten gut. Erst verlegte US-Präsident Trump die Botschaft nach Jerusalem, dann beschloss das Parlament ein lange umstrittenes neues Grundgesetz, das Israel als jüdischen Staat definiert. Das gefällt nicht allen – die nationalistische Politik von Premier Benjamin Netanjahu polarisiert die Gesellschaft. Hier diskutieren nun zwei der wichtigsten Stimmen des rechten und des linken Lagers: Wohin steuert Israel?
DIE ZEIT: Lassen Sie uns zuerst klären, wo wir hier eigentlich sind. Ist Jerusalem die Hauptstadt Israels, wie Donald Trump meint?
Talia Sasson: Westjerusalem ist Israels Hauptstadt. Der Osten sollte die Hauptstadt eines Staates Palästina werden.
Yoaz Hendel: Das ist doch illusorisch! Die zwei Teile von Jerusalem lassen sich nicht mehr trennen. Die Zeit ist gekommen, dass wir diese Fakten endlich anerkennen. Es ist nicht politisch korrekt, das zu sagen, aber: Wir wollen das Maximum an Land mit einem Minimum an Arabern. Israel ist jetzt stark genug, sich durchzusetzen. Und das gilt übrigens nicht nur für Jerusalem.
ZEIT: Und was für ein Staat ist Israel? Der "Nationalstaat des jüdischen Volkes", wie es das neue Grundgesetz festschreibt?
Hendel: Ganz klar ja. Ich habe das Gesetz von Beginn an unterstützt.
Sasson: Israel ist das Heimatland des jüdischen Volkes, so steht es in der Unabhängigkeitserklärung. Da steht aber auch, dass Israel eine Demokratie ist, mit gleichen Rechten für alle. Israel ist die Heimat der Juden und der Staat all seiner Bürger. Das Problem mit dem neuen Gesetz ist das, was nicht drin steht: kein Wort von Demokratie!
Hendel: Demokratie muss doch nicht in jedem Gesetz wieder erwähnt werden! Das neue Gesetz hilft uns als Gesellschaft, endlich festzulegen, was für ein Land wir sein wollen. Das ist zuallererst der Nationalstaat der Juden. Ich kann nicht sehen, wie das Gesetz die Demokratie gefährden soll. Da steht nur drin, wie Israel heute schon ist.
ZEIT: Da steht zum Beispiel, dass der Staat den Bau jüdischer Dörfer unterstützen soll. Von Unterstützung für andere Gruppen ist keine Rede.
Hendel: Das ist das Wesen zionistischer Politik: Juden sollen das Land besiedeln. Das Gesetz bringt das lediglich auf den Tisch. Der Kern des Gesetzes ist für mich, dass es eine Grenze zieht zwischen nationalen Rechten und individuellen Rechten. Jeder Staatsbürger, jüdisch wie arabisch, muss gleiche individuelle Rechte haben. Aber eben nicht gleiche nationale Rechte. Die Araber in Israel dürfen nicht morgen aufwachen und einen arabischen Staat ausrufen können.
Sasson: Es geht doch um viel mehr. Die Bruchlinie verläuft nicht allein zwischen Juden und Arabern. Sie verläuft zwischen Verfechtern der Demokratie und jenen, die das Jüdische im Zweifel vor das Demokratische stellen. Unser Präsident Reuven Rivlin hat in einer berühmten Rede von den vier Stämmen Israels gesprochen: säkulare, ultraorthodoxe und nationalreligiöse Juden – und Araber. Der Präsident hat gewarnt: Wenn sich alle weiter zerstreiten, wird Israel zerbrechen. Wir müssen gemeinsam eine neue Identität finden. Dafür muss der Staat die Besatzung der palästinensischen Gebiete beenden.
Hendel: Ich glaube nicht, dass die Besatzung der Knackpunkt ist. Ich glaube an die Idee der "eisernen Mauer" des zionistischen Vordenkers Zeev Jabotinsky: Die Araber werden niemals freiwillig eine jüdische Mehrheit hier akzeptieren. Also müssen wir Israel so stark machen, dass die Araber sich entscheiden müssen: Wollt ihr dazu gehören, oder wollt ihr Israel zum Feind? Talia, ihr Linken glaubt, die Palästinenser freunden sich mit Israel an, wenn Israel nur netter zu ihnen ist.
Sasson: Es geht nicht um Nettigkeit, es geht um Rechte. Israel kann nur jüdisch und demokratisch sein, wenn Juden die Mehrheit sind. Hier leben aber zwei Völker, also müssen wir eine Grenze ziehen und zwei Staaten schaffen. Wenn Israel eine Demokratie bleiben will, muss es die Rechte aller wahren – auch die der Palästinenser.
ZEIT: Ist Israels Demokratie gefährdet?
Sasson: In Israel kann jeder wählen, und die Menschenrechte werden verteidigt. Aber ich mache mir Sorgen. Schauen Sie sich das Nationalstaatsgesetz an. Wenn ich recht habe und dieses Gesetz gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt, dann sind wir heute ein weniger demokratischer Staat als zuvor. Und die Regierung plant weitere Gesetze. Eines soll die Unabhängigkeit des Obersten Gerichtes einschränken. Andere behindern Bürgerrechtsorganisationen in ihrer Arbeit. Ich frage mich: Wohin will uns diese Regierung führen? Ich habe Angst.
ZEIT: Die deutsche Bundeskanzlerin reist diese Woche nach Israel. Was wünschen Sie sich von Angela Merkel, wie sollte sie mit dieser Regierung sprechen?
Sasson: Ich kann Frau Merkel nur darauf hinweisen, dass die Regierung nicht für alle Israelis spricht. Dieser Premierminister hat etwa 25 Prozent der Sitze im Parlament. Viele Israelis denken ganz anders als er. Deutschland sollte schauen, wie es die unterstützen kann, die sich hier für die Demokratie einsetzen. Das ist zu Israels Bestem.
ZEIT: Israels Regierung hat auf solche Unterstützung mit harscher Kritik reagiert. Premier Netanjahu weigerte sich, Außenminister Gabriel zu empfangen, weil der sich mit Kritikern der Besatzung traf.
Sasson: Ja, die Reaktionen sind hart. Tut mir leid für Deutschland. Aber das ist die Debatte, die wir hier haben. Wer an die Demokratie glaubt, der muss jetzt für sie kämpfen.
Hendel: Unsere Demokratie ist stärker als je zuvor. Ich bin in einer rechten Familie groß geworden. Als ich anfing, mich für Politik zu interessieren, da hatten Leute wie wir keine Stimme. Nicht in den Medien, nicht im Parlament. Das hat sich endlich geändert. Unsere Demokratie ist dadurch stärker geworden, dass heute mehr sagbar ist als je zuvor. Wir führen eine gesunde Wertedebatte.
"Es ist der Kampf der Kulturen"
Sasson: Die Linke kann heute fast nichts mehr sagen. Die Linke wird von Rechten systematisch delegitimiert. "Links" wird gleichgesetzt mit "antiisraelisch". Das ist eine Kampagne, und Benjamin Netanjahu führt sie an.
Hendel: Linke teilen auch aus. Als ich jünger war, da wurde man als Siedler, der nicht an das Gerede vom Frieden mit Jassir Arafat glaubte, verteufelt. Heute ist es wohl andersherum. Das bedaure ich. Wir haben es in Israel eben mit Populismus zu tun, so wie anderswo auch. Und Netanjahu ist ein großer Populist.
ZEIT: Netanjahu hat sich mehrfach zur Zweistaatenlösung bekannt, Verhandlungen dazu aber stets torpediert. Meinte er es ernst?
Hendel: Netanjahu hat gelogen. Netanjahu hat von zwei Staaten gesprochen, weil Obama und Europa das hören wollten. In Israel war allen klar, dass er es nicht meinte. Mit Trump muss er nichts mehr vortäuschen. Bibi Netanjahu spricht inzwischen vom "Staat-minus". Und Trumps "ultimativer Deal" wird genau dahin führen: zu einem Halbstaat Palästina auf dem Gebiet der palästinensischen Städte. So etwas in der Art.
ZEIT: Das würde den Palästinensern das Recht auf Selbstbestimmung absprechen.
Hendel: Das interessiert mich nicht. Alles was ich will, ist ein Israel als Nationalstaat und Demokratie. Wir sind hier im Nahen Osten, Leute schlachten sich gegenseitig ab! Es ist der Kampf der Kulturen. Israel steht dabei für den Westen, also sollte der Westen Israel unterstützen. Es geht auch um unsere Sicherheit. In dem Moment, in dem eine linke Regierung den Palästinensern die Schlüssel zu einem eigenen Staat übergibt, wird es dort eine Diktatur geben, die mit Raketen auf Tel Aviv zielt. Schauen Sie auf Gaza!
Sasson: Es geht euch doch nicht um Sicherheit, es geht euch nur um die Siedlungen! Man muss nur schauen, was in den vergangenen 50 Jahren im Westjordanland passiert ist: 600.000 Israelis leben heute dort! Wissen Sie, wie viele Soldaten es braucht, um die zu schützen? Die Rechten siedeln, um sagen zu können, "praktisch" bliebe kein anderer Weg als die Annexion.
Hendel: Ich bin in einer Siedlung aufgewachsen, meine Eltern leben dort. Man kann 600.000 Menschen nicht mehr umsiedeln.
ZEIT: Angela Merkel hat mit Netanjahu immer wieder über die Siedlungen gesprochen. Nach einem Treffen sagte sie den berühmten Satz, man sei sich einig, dass man sich nicht einig sei. Haben die beiden sich überhaupt noch etwas zu sagen?
Hendel: Ich hatte die Gelegenheit, die Kanzlerin bei einem ihrer Besuche hier zu treffen, im King David Hotel in Jerusalem. Nebenbei bemerkt: Es war gut, mal eine Führungspersönlichkeit zu treffen, die tatsächlich zuhört. Wir haben über die Aussicht aus ihrem Fenster gesprochen, man blickte auf die Grenze von 1967. Da ist zu sehen, dass man nicht von heute auf morgen die beiden Seiten trennen kann. Ich habe ihr gesagt: Seid pragmatisch. Unterscheidet zwischen Lösungen, die vor 25 Jahren attraktiv klangen, und Lösungen, die heute infrage kommen.
ZEIT: Die Europäer fänden es pragmatisch, wenn Israel die Situation nicht noch komplizierter machte und endlich den Siedlungsbau stoppte.
Hendel: Das habe ich aus Europa schon vor zehn Jahren gehört. Aber wenn die Europäer immer nur wiederholen: "Wir sind nicht glücklich damit, was ihr macht", dann sind wir in zehn Jahren immer noch nicht weiter. Und übrigens: Fragen wie die nach dem Nationalstaatsgesetz sind meiner Ansicht nach interne Angelegenheiten, da sollte sich niemand einmischen. Es wäre doch auch komisch, wenn Netanjahu Merkel sagte, dass er nichts von ihrer Migrationspolitik hält und besorgt ist, weil er da aus Deutschland viel Kritik daran hört.
Sasson: Und was, wenn Frau Merkel denkt, dass die israelische Regierung die Demokratie gefährdet?
Hendel: Wenn Angela Merkel denkt, dass Israel keine Demokratie mehr ist, dann soll sie das öffentlich sagen und Netanjahu mitteilen, dass sie die Beziehung zu Israel ändern möchte. Ich glaube aber kaum, dass sie so denkt. Ich kann diese Sicht auf Israel nicht gutheißen, nach der hier alles schlimm ist und immer schlimmer wird. Ich sehe einen florierenden, demokratischen Staat – inmitten eines Dschungels.
Sasson: Auch ich sehe ein sehr starkes Land, erbaut von Menschen, deren Familien ausgelöscht wurden. Doch wir sind auf dem falschen Weg. Die Besatzung und die Siedlungen verleiten uns dazu, unsere Demokratie zu zerstören. Diese Regierung hat damit Israels Ruf schwer beschädigt. Wer heute nicht sieht, dass Israels Demokratie in Gefahr ist, der ist blind.
Hendel: Wir teilen doch im Grunde die gleiche Vision, Talia. Wir wollen einen jüdischen Nationalstaat und die Demokratie. Aber für mich ist das keine moralische Frage. Ich denke, wir sollten pragmatisch sein.
Sasson: Wir mögen die gleiche Vision haben. Doch der Weg, den du gutheißt, die Besatzung, die Siedlungen, der untergräbt diese Vision.
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