Am vergangenen Sonntag, 25. Februar 2024 wurde der Dokumentarfilm „No Other Land“ mit dem Panorama Publikums-Preis 2024 und dem Berlinale Dokumentarfilmpreis 2024 ausgezeichnet. In dem Film wird die Menschenrechtslage und die Vertreibung palästinensischer Gemeinden aus Massafer Yatta im besetzten Westjordanland thematisiert. Der Film wurde von einem palästinensisch-israelischen Filmkollektiv um Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham und Rachel Szor realisiert.
Bei der Preisverleihung sagte Basel Adra, der in Masafer Yatta geboren wurde, es sei für ihn sehr schwer zu feiern, während „Zehntausende meines Volkes in Gaza gerade niedergemetzelt und massakriert werden“ und forderte Deutschland auf, keine Waffen mehr an Israel zu liefern. Der israelische Journalist Yuval Abraham forderte in seiner Rede ein Ende der Besatzung und einen Waffenstillstand in Gaza. Er erklärte: „Basel und ich sind im selben Alter, ich bin Israeli, er ist Palästinenser, in zwei Tagen werden wir zurück in ein Land gehen, in dem wir nicht gleich sind. Ich lebe unter Zivilrecht, Basel unter Militärrecht. (…) Ich habe Wahlrechte, Basel hat keine Wahlrechte. Ich habe Bewegungsfreiheit, Basel ist wie Millionen von Palästinensern im besetzten Westjordanland eingeschlossen. Diese Situation der Apartheid, diese Ungleichheit, muss enden.“
Die Äußerungen Adras und Abrahams wurden in der Presse, in sozialen Medien und von politischen Entscheidungsträger:innen als „Israel-Bashing“, „israelfeindlich“ oder „antisemitisch“ kritisiert. Außerdem wurde kritisiert, dass die Filmemacher in ihren Reden nicht die Terrorangriffe der Hamas und anderer bewaffneter palästinensischer Gruppen am 7.10.2023 erwähnt haben. Auch der israelische öffentlich-rechtliche Fernsehsender Kan berichtete über den Fall und bezeichnete Yuval Abraham als „antisemitisch“. Diese Bezeichnung nahm der Fernsehsender kurze Zeit später zurück.
Mickey Gitzin, CEO des New Israel Fund (NIF) in Israel erklärte auf X, dass die meisten Menschen in Israel es vorzögen, die Augen vor der Realität in den besetzten Gebieten zu verschließen. Bei den Antisemitismus-Vorwürfen gegen Yuval Abraham handele es sich um den Versuch, „to shoot the messenger“ d.h. den Überbringer der Nachricht anzugreifen, anstatt sich mit dem Inhalt auseinanderzusetzen:
„Bei der Preisverleihung für seinen Film in Berlin äußerte @yuval_abraham die einfachsten Worte, die die Realität im Süden von Hebron genau beschreiben. Die Trolle in den israelischen Kommentaren zeugen mehr als alles andere von der großen Ratlosigkeit, in der sich die meisten Israelis angesichts der Lebensrealität empfinden, die wir im Westjordanland schaffen. Man kann kein ethisch und moralisch handelnder Mensch sein, die Realität sehen – und in Frieden damit leben.
Gegenüber dem britischen Guardian erklärte Yuval Abraham, er erhalte seit der Berichterstattung über die Preisverleihung Morddrohungen, ein rechter Mob habe das Haus seiner Familie in Israel angegriffen und nach ihm gesucht, er habe daraufhin seinen Rückflug nach Israel vorerst storniert. Abraham machte auch die Äußerungen deutscher Entscheidungsträger:innen, die ebenfalls in der Berichterstattung von Kan zitiert wurden, für die Angriffe gegen ihn und seine Familie verantwortlich. Auf X warnte er: „Ihr könnt mich und Basel für das, was wir auf der Bühne gesagt haben, hart kritisieren, ohne uns zu dämonisieren.“
Damit bringt Abraham auf den Punkt, was in der derzeitigen Debatte um die Berlinale-Preisverleihung schief läuft: Man muss mit Adras und Abrahams Äußerungen nicht einverstanden sein, man kann ihnen etwas entgegensetzen, sie nicht unkommentiert stehen lassen, das ist Teil der freien Meinungsäußerung in der Kunst und der demokratischen Öffentlichkeit. Wenn jedoch die Grenze zur Verunglimpfung überschritten wird, wenn die Kritik eines israelischen Journalisten an israelischer Politik als „antisemitisch“ diffamiert wird, schränkt dies den Raum der demokratischen Debatte empfindlich ein, entleert den Begriff des Antisemitismus und schadet damit dem Kampf gegen diesen. Der Fall zeigt außerdem, wie enthemmter Diskurs im Internet und in den Kommentarspalten sich in Gewalt im realen Leben übersetzen kann, weil er gewalttätige Gegner:innen der Meinungs- und Kunstfreiheit ermutigt. Wortführer:innen und Entscheidungsträger:innen kommt eine besondere Verantwortung zu, im öffentlichen Diskurs über Israel, Palästina und den Konflikt die Meinungs- und Kunstfreiheit zu schützen und eine pluralistische Auseinandersetzung zu ermöglichen.
Foto: Evilelka Kowalski, Creative Commons Lizenz, via Flickr.
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