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Michael Sfard über Israels Einstufung von 6 palästinensischen NGOs als "terroristische Organisation"

Aktualisiert: 5. Jan. 2023

Der folgende Text wurde Ende November vom New Israel Fund in englischer Sprache als 6 Key Points from Attorney Michael Sfard on Israel declaring six prominent Palestinian NGOs “terrorist organizations”‘ veröffentlicht. Die Übertragung ins Deutsche wurde vom NIF-Deutschland vorgenommen.



Am 22. Oktober erklärte der israelische Verteidigungsminister Benny Gantz sechs bekannte palästinensische Menschenrechtsorganisationen und zivilgesellschaftliche Gruppen zu „terroristischen Organisationen“. Auch wenn der New Israel Fund nicht direkt mit diesen Gruppen zusammenarbeitet und die Beweise gegen sie weiterhin unter Verschluss gehalten werden, sind wir uns darüber im Klaren, dass dieser Vorgang einer eingehenden Prüfung bedarf. Im Folgenden geben wir die Analyse des renommierten israelischen Menschenrechtsanwalts Michael Sfard wieder, der als Rechtsbeistand für viele Menschenrechtsorganisationen in Israel tätig ist. Hier sind sechs Punkte, die er als wesentlich für alle ansieht, die versuchen, die jüngsten Einstufungen der israelischen Regierung zu verstehen.

(1) Diese Organisationen haben unser Vertrauen verdient.

Bei den sechs vom israelischen Verteidigungsminister bestimmten Organisationen handelt es sich um bekannte und angesehene Menschenrechtsorganisationen und Organisationen der Zivilgesellschaft. Ihre Arbeit ist sowohl gegenüber Israel als auch der Palästinensischen Autonomiebehörde kritisch. Alle, die sich mit Menschenrechten in Israel, auf internationaler Ebene oder in Palästina befassen, weiß, dass es sich um erfahrene, professionelle und seriöse Menschenrechtsverteidiger handelt, die sich durch jahrzehntelange kritische Arbeit Anerkennung erworben haben. Ihr nachweislicher Einsatz gegen Menschenrechtsverletzungen in Palästina hat ihnen einen hervorragenden Ruf in der ganzen Welt eingebracht. Ich glaube diesen Organisationen – zumindest denen, die ich seit Jahren kenne – Al-Haq, Defense for Children International-Palestine und Addameer, wenn sie sagen, dass sie nichts mit Terrorismus zu tun haben, wie von der israelischen Regierung behauptet wird. Ich kenne ihre Arbeit, ich kenne einige der Menschen, die dort arbeiten persönlich, und ich vertraue ihnen.


(2) Israels Motivation, diese Gruppen als „Terrororganisationen“ zu klassifizieren, beruht auf dem juristischen Engagement und der Lobbyarbeit dieser NGOs; Sicherheitsargumente dienen als Vorwand.

Die israelische Regierung behauptet nicht, dass es sich bei diesen Organisationen um eine „Fassade“ handele und sie in Wahrheit keine Menschenrechtsarbeit leisten würden, sondern stattdessen Scheinorganisationen wären, die nur eingerichtet wurden, um Geld an Terroristen zu leiten. Stattdessen wird behauptet, diese Organisationen beschäftigten Mitarbeiter der PFLP, einer als terroristisch eingestuften Organisation. Mal angenommen, die amerikanische Regierung erfährt, der Direktor eines Krankenhauses spendet Geld für illegale Zwecke, oder ein Krankenhausmitarbeiter wäre in eine terroristische Verschwörung verwickelt – dann würde nicht sofort das gesamte Krankenhaus abgeriegelt und eine ganze Gemeinde ohne medizinische Versorgung gelassen, sondern es würde diejenigen, die an den illegalen Aktivitäten beteiligt sind, mit aller Härte geahndet werden.

Die Tatsache, dass die israelische Regierung Maßnahmen ergriffen hat, um diese Organisationen komplett lahm zu legen, bedeutet dass sie (a) nicht über die erforderlichen Beweise für ihre Anschuldigungen verfügt und (b) in Wirklichkeit kein Interesse an den angeblichen „terroristischen Elementen“ hat. Sie ist über die bloße Tatsache beunruhigt, dass diese NGOs überhaupt existieren und möchte die Aktivitäten der NGOs – die Interessenvertretung und die juristische Arbeit zur Verteidigung und Sicherung der Menschenrechte – ganz und gar beenden. Die israelische Regierung ist sich darüber im Klaren, es werde deutlich werden, dass der Kaiser keine Kleider hat, wenn sie ihre „Beweise“ gegenüber der Öffentlichkeit offenlegen würde. Stattdessen hält die israelische Regierung die „Beweise“ unter Verschluss, unter Berufung auf das Geheimhaltungsrecht.


(3) Die Anschuldigungen sind nicht neu und haben sich bereits mehrfach als unbegründet erwiesen.

Die besagten Organisationen stehen schon seit Jahren unter Beschuss. Zunächst von rechten israelischen NGOs und dann von israelischen Regierungen, die sie als wichtige Akteure in der Befürwortung von Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Israelis und bei der Förderung der Boykott-Desinvestitions-Sanktions-Bewegung (BDS) ausgemacht haben. Diese Akteure nahmen sie dann (wegen ihrer juristischen und ihrer Lobbyarbeit) mit einer Verleumdungskampagne ins Visier, die europäische Geldgeber davon überzeugen sollte, sie hätten Verbindungen zur PFLP. Diese Anschuldigungen beruhten auf einer fragwürdigen Logik der Kontaktschuld. Anfang 2019 verfasste das Ministerium für strategische Angelegenheiten (jetzt Teil des Außenministeriums) einen Bericht mit dem Titel „Terroristen im Anzug“, der von mehreren Netanjahu-Regierungen eingesetzt wurde, europäische Regierungen zu überreden, die Finanzierung dieser Organisationen einzustellen. Doch die „Beweise“ waren so schwach, dass sich die europäischen Regierungen nicht überzeugen ließen. Einige sahen sich dennoch dazu veranlasst, die Tätigkeit dieser Organisationen gründlich zu überprüfen. Als bei den Prüfungen nichts Unzulässiges festgestellt wurde, wiesen diese Regierungen die israelischen Forderungen endgültig zurück.

Anmerkung: BDS und das Eintreten für die Rechte der Palästinenser in internationalen Gremien wie dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) mögen für Israelis unangenehm sein, aber sie sind heute in Israel nicht illegal; und sie sind definitiv keine terroristischen Aktivitäten, sondern bloße Akte der Interessenvertretung. Die Anwendung der Anti-Terror-Gesetzgebung und ihrer Befugnisse zur Verhinderung politischer Opposition ist ein völlig überzogener Akt eines Staates, der Angst vor jener Kritik hat, die von Menschenrechtsorganisationen gegen ihn geäußert werden.


(4) Was ist neu?

Im Mai 2021 wandten sich israelische Vertreter erneut an europäische Regierungen und baten sie, die Finanzierung dieser Organisationen einzustellen. Sie behaupteten, sie hätten „neue Beweise“ in der Hand. Zwei ehemalige Mitarbeiter einer siebten Organisation (Health Workers Committee) wurden entlassen, vom Shin Bet (Israels Inlandsgeheimdienst) verhaftet und gestanden dann in der Haft (unter unbekannten Bedingungen), Geld an die PFLP weitergeleitet zu haben. Obwohl sie nie für eine dieser anderen Organisationen gearbeitet haben und obgleich keine Beweise zur Untermauerung ihrer Behauptungen vorgelegt werden konnten, bezeichneten sie [die israelischen Vertretungen] die sechs Organisationen, über die jetzt debattiert wird, als „bekannt als PFLP-Organisationen“ und „Teil des PFLP-NGO-Netzwerks“. Als diese „neuen“ Beweise vorgelegt wurden, wiesen die meisten europäischen Regierungen sie rundheraus zurück. Einige sagten, sie würden eine weitere gründliche Prüfung dieser Organisationen durchführen. Aber sie fanden nichts – kein Geld wurde für irgendetwas Unrechtmäßiges abgezweigt. Erneut wiesen diese Regierungen die israelische Forderung zurück, die Beziehungen zu [den sechs] NGOs zu beenden und die Finanzierung deren kritischer Arbeit einzustellen. Doch Verteidigungsminister Gantz tat, was Netanjahus Regierungen nicht zu tun wagten, und erklärte diese Gruppen im Alleingang zu „Terrororganisationen“. Da Israel die europäischen Regierungen nicht überzeugen konnte, ergriff es schließlich unilaterale Maßnahmen. Damit hat es sein ursprüngliches Ziel erreicht: Die finanzielle Lahmlegung von sechs Organisationen, deren politische Arbeit ihm nicht gefällt.

Neu sind auch die Berichte über die Hackerangriffe von NSO, einer israelischen IT-Firma, auf die privaten Handys der Mitarbeiter:innen einiger dieser palästinensischen NGOs. Damit wurden einige ihrer grundlegendsten Rechte verletzt. NSO wurde vor kurzem von den Vereinigten Staaten auf eine Schwarze Liste gesetzt, weil ihre Software mutmaßlich gegen Verteidiger:innen von Menschenrechten eingesetzt wird.


(5) Israels weit gefasstes Anti-Terror-Gesetz von 2016 ermöglichte diese Einstufung

Das israelische Antiterrorgesetz enthält zwei alternative Definitionen für eine terroristische Organisation: (1) Eine Organisation, die Terrorakte durchführt, und (2) eine Organisation, die für eine Organisation der ersten Art „Dienste erbringt“ oder eine „Verbindung“ zu ihr hat. Die letztgenannte Definition enthält äußerst unscharfe Begriffe („Dienste erbringen für“, „Verbindungen haben zu“) und könnte – wenn sie weit ausgelegt wird – aufgrund ihres dehnbaren Charakters die gesamte palästinensische Gesellschaft umfassen.

Für die Palästinenser hat Israel ein Netz aus Anordnungen, Bestimmungen, Proklamationen und Gesetzen geschaffen, die fast jede politische Handlung zu einem terroristischen Akt machen. Alle palästinensischen politischen Gruppierungen – einschließlich derer, die im palästinensischen Parlament sitzen – stehen bereits auf der israelischen Liste der Terrororganisationen oder nicht zugelassener Organisationen. Ein junger Palästinenser, der politisch aktiv werden möchte, kann keiner politischen Partei beitreten, ohne gegen israelisches Recht zu verstoßen. Dies bringt die Palästinenser in ein schreckliches und undemokratisches Dilemma, und zwar deshalb, weil Israel politische Arbeit mit terroristischen Aktivitäten gleichsetzt.

Für die sechs Organisationen ist die Einstufung als „terroristische Organisation“ das NGO-Äquivalent zu einer Todesstrafe. Die Regierung kann ihr Eigentum enteignen und – was besonders schwer wiegt – das israelische Bankensystem, das das palästinensische Bankensystem kontrolliert, dazu veranlassen, alle Transaktionen auf ihre Konten zu blockieren, alle Geldüberweisungen, die sie erhalten, zu konfiszieren und sie als „Terroristenfonds“ einzustufen. Alle, die eine Position in der Organisation innehaben – Angestellte, Freiwillige, Vorstandsmitglieder – oder alle, die Verbindungen zu der Organisation haben oder ihr Dienstleistungen anbieten, müssen sofort alle Verbindungen zu ihr abbrechen oder mit möglichen strafrechtlichen Anklagen rechnen, die zu langen Haftstrafen führen können.

Für Israelis wird durch dieses Gesetz (das Personen, die eine terroristische Organisation „unterstützen“ oder mit ihnen „sympathisieren“, mit jahrelangen Haftstrafen droht) die Unterstützung dieser palästinensischen Menschenrechtsorganisationen zu einem Akt des zivilen Ungehorsams – und damit zum Verstoß gegen das Gesetz. Gegen einige, mich eingeschlossen, die sich öffentlich für diese Organisationen eingesetzt haben, wurde bereits Anzeige bei der Polizei erstattet, und zwar von rechtsgerichteten Organisationen, die uns gerne eingesperrt sehen würden.


(6) Eine rasche Aufhebung der Einstufung ist von entscheidender Bedeutung. Die Beibehaltung dieser Einstufung schadet der Aussicht auf ein zukünftiges demokratisches Leben in Israel und Palästina erheblich.

Wenn sie nicht schnell rückgängig gemacht wird, könnten diese Organisationen in einem Jahr nicht mehr existieren, zumindest nicht in ihrer jetzigen Form. Dies gefährdet das Rückgrat der noch jungen palästinensischen Zivilgesellschaft und könnte dazu führen, dass Tausende von Menschen, denen diese Organisationen zur Seite stehen, keinen Ansprechpartner mehr haben. Es wird den Kampf für Menschen- und Bürgerrechte in Palästina – und damit für die Demokratie selbst – zurückwerfen und die Demokratisierung um eine Generation verzögern.

Darüber hinaus wird die israelische Regierung zwar ihr Ziel erreicht haben, das zu beseitigen, was sie als politische Bedrohung empfindet, aber sie wird auch noch repressiver und autoritärer werden. Das Beste für die Zukunft von Israelis und Palästinensern ist es, diese Bezeichnung so schnell wie möglich rückgängig zu machen.

Ein Blick nach vorn:

Es gibt zwei Möglichkeiten, diese Bezeichnung rückgängig zu machen. Die erste Möglichkeit verläuft über die europäischen Regierungen, die diese Organisationen seit Jahren finanzieren, weil sie der Meinung sind, eine lebensfähige, gerechte Zukunft im Nahen Osten hänge vom Aufbau demokratischer Gesellschaften auf der Grundlage einer lebendigen Zivilgesellschaft ab. Mit der Einstufung dieser Organisationen als „terroristisch“ hat Israel diesen Weg, den die Regierungen seit Jahren gegangen sind, versperrt. Werden diese Regierungen es riskieren, Gelder an diese Organisationen zu überweisen, und dann abwarten, ob Israel sie durchlässt oder sie blockiert und damit eine diplomatische Krise auslöst?

Der zweite Weg, der den betroffenen Organisationen offensteht, ist der Weg über das israelische Gerichtssystem. Dies ist ein problematischer Weg, den der Verursacher innerhalb seines eigenen Systems anbietet, und es bleibt abzuwarten, ob die palästinensischen Organisationen diesen Weg angesichts der schlechten Bilanz dieses Systems einschlagen werden. Dieser Weg ist lang und beschwerlich, und soweit ich weiß, hat es noch nie einen erfolgreichen Fall gegeben, in dem die israelische Justiz die Einstufung als „terroristische Organisation“ rückgängig gemacht hat. Aber dies ist kein gewöhnlicher Fall, und je lauter der internationale Aufschrei, desto stärker auch der Druck auf die israelischen Behörden, das Richtige zu tun.

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