Aktuelles

Die demokratische israelische Zivilgesellschaft – ein Jahr nach dem 7. Oktober 2023

For a recording of the event in English, please follow this link.

Ein Jahr nach dem 7. Oktober setzt sich die demokratische israelische Zivilgesellschaft weiterhin für die Freilassung der Geiseln, die Verteidigung der Demokratie, die Achtung der Menschenrechte und eine politische  des Krieges ein. Dabei werden sie vom New Israel Fund mithilfe von Spenden aus aller Welt sowie Vernetzung und Kapazitätsaufbau unterstützt. Anlässlich des Jahrestages organisierte der New Israel Fund (NIF) Deutschland am 5.11.2024 in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung eine Podiumsdiskussion mit jüdischen und palästinensischen Aktivist*innen aus Israel zum Thema „Die demokratische israelische Zivilgesellschaft – ein Jahr nach dem 7. Oktober 2023“.

Der 07. Oktober – Katalysator und  Wendepunkt

Der Aktivist Yonatan Zeigen spricht über die Notwendigkeit von Transformation.

Krisen sind nicht nur Wendepunkte, sie sind auch oft Katalysatoren für bestehende Probleme und Ungerechtigkeiten. Nach den verheerenden Auswirkungen der COVID-19 Pandemie, und den Protesten gegen den seit 2022 von Benjamin Netanjahu angeführten Umbau der Justiz sieht sich die demokratische israelische Zivilgesellschaft seit dem 7. Oktober mit bisher nicht gekannten Herausforderungen konfrontiert. Häufig persönlich betroffen von Verlust und Traumata im Zusammenhang mit den Terrorangriffen und der Zeit danach, setzt die israelische demokratische Zivilgesellschaft ihren unermüdlichen Einsatz fort – trotz wachsender persönlicher Anfeindungen, Einschüchterungsversuchen von rechts und dem immer weiter schrumpfenden Handlungsspielraum. Der Schmerz dieser Zeit müsse nun in einen Prozess der Veränderung kanalisiert werden, so der Aktivist Yonatan Zeigen, dessen Mutter Vivian Silver am 7.10.23. von der Terrororganisation Hamas ermordet wurde und der in seiner Keynote auf die Notwendigkeit eines Waffenstillstands und einer Rückkehr zu einem politischen Prozess zur Regelung des Konflikts hinwies.

Shira Ben-Sasson Furstenberg, stellvertretende Leiterin des NIF Israel-Büros, stellt die Arbeit des NIFs vor.

Der New Israel Fund, vertreten durch die stellvertretende Leiterin des Israel-Büros, Shira Ben-Sasson Furstenberg, setzt sich seit mehr als 45 Jahren für die Erfüllung der in der israelischen Unabhängigkeitserklärung niedergelegten Versprechen von Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden und gesetzlicher Gleichberechtigung aller Bürger:innen durch die Finanzierung demokratischer und progressiver Nichtregierungsorganisationen ein. Dabei stehen insbesondere der Einsatz für marginalisierte Gemeinschaften in Israel, die Stärkung des pro-demokratischen Lagers und der Einsatz für eine friedliche Regelung des Konflikts im Fokus. Shira verdeutlichte eindrücklich, wie der New Israel Fund trotz der anhaltenden Eskalation der Gewalt und dem wiederholten Scheitern von Verhandlungen sich weiterhin mit Entschlossenheit an der Seite von langjährigen Partnerorganisationen für die Freilassung der Geiseln und einen Waffenstillstand einsetzt. Christian Meier, Moderator des Abends und Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) in Tel Aviv unterstrich, wie entscheidend eine nachhaltige und ausreichende Finanzierung der demokratischen Zivilgesellschaft sei, auch um der ausländischen Finanzierung illegaler Siedlungsaktivitäten in der Westbank entgegenzutreten. Die israelische demokratische Zivilgesellschaft ist so vielfältig wie die Gesellschaft selbst und engagiert sich für unterschiedlichste Anliegen, deren Dringlichkeit durch den Krieg häufig noch verschärft wird. Einige dieser Projekte wurden im Rahmen der Podiumsdiskussion vorgestellt.

Paneldiskussion mit Yeela Raanan Livnat, Sasha Misheritzky, Christian Meier, Lina Qasem-Hassan und Shira Livne

Gegründet aus der humanitären Pflicht von Ärzt*innen, setzt sich die Organisation Physicians for Human Rights (PHRI) für den Zugang zu medizinischer Versorgung für alle Menschen, darunter auch Bewohner*innen des Westjordanlandes und des Gazastreifens sowie für Staatenlose, Gefangene, Flüchtlinge und Binnenvertriebene auf israelischem Staatsgebiet ein. Nach dem 7. Oktober leisteten PHRI humanitäre Hilfe und medizinische Versorgung für von Terroristen angegriffene israelische Gemeinden und Binnenevakuierten. Seit Ausbruch des Krieges setzen sie sich u.a. für die Rechte palästinensischer Gefangener in Israel und die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung in Gaza ein. Dafür werden sie immer wieder bedroht, angeklagt oder in ihrer Betätigung eingeschränkt. So schilderte die palästinensisch-israelische Ärztin Lina Qasem-Hassan eindrücklich, wie sie aufgrund ihres Engagements immer wieder als Terroristin diffamiert wird.

Wie die PHRI verfolgt auch die Association for Civil Rights in Israel (ACR) einen rechtebasierten Ansatz, um die Bürger- und Menschenrechte in Israel und den besetzten Gebieten zu schützen. Dies erfolgt insbesondere durch Petitionen an den Obersten Gerichtshof. Shira Livne beschrieb eindringlich, wie im Schatten des Krieges durch Politiker wie den Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich die schrittweise Annexion der Westbank und der Siedlungsbau vorangetrieben werden. Dabei wird die rechtliche Struktur der Besatzung verändert und zunehmend in zivile Hände übergeben, während gleichzeitig Siedlergewalt von der israelischen Armee toleriert und oft ungeahndet bleibt. Parallel dazu untergraben die Einschränkungen der Meinungs-, Demonstrations- und Kunstfreiheit, sowie die Schaffung einer paramilitärischen Nationalgarde, die Minister Ben Gvir direkt untersteht, zentrale Grundpfeiler des Rechtsstaates.

Yeela Raanan Livnat arbeitet beim Regional Council for Unrecognized Villages (RCUV), dem Dachverband der Gemeinden der Beduinendörfer im Süden Israels, die rund 250.000 Menschen umfassen. Bereits vor dem 7. Oktober 2023 lebten diese Gemeinden aufgrund fehlender staatlicher Anerkennung in großer Armut, ohne ausreichende Gesundheitsversorgung und Bildungsmöglichkeiten und unter ständiger Bedrohung durch Zwangsräumungen durch die israelische Regierung. Die fehlende Infrastruktur von Bunkern und anderen Schutzmaßnahmen führten dazu, dass beduinische Gemeinden den Raketenangriffen und Terrorattacken vom 7. Oktober schutzlos ausgeliefert waren. Der RCUV, der auf arabisch-jüdische Zusammenarbeit unter Führung der Beduinen setzt, engagiert sich dafür, dass die Anliegen und humanitären Bedürfnisse der Beduinendörfer trotz des Krieges nicht in Vergessenheit geraten. Der Rat fordert u.a. staatliche Anerkennung, den Aufbau von Infrastruktur wie Bildungseinrichtungen und Gesundheitsversorgung für die Beduinengemeinden – unter Wahrung ihrer Selbstverwaltung.

Der Krieg hat bestehende Spannungen und Ungleichheiten in der vielfältigen israelischen Gesellschaft weiter verschärft. Evakuierungen ganzer Gemeinden, Spannungen in sogenannten “gemischten” Städten sowie neue und wieder aufbrechende Traumata belasten die Bevölkerung, während die Regierung oft versäumt, diesen Bedürfnissen gerecht zu werden. Die Tzedek Community Centers, die mittlerweile fast 20 Zentren in ganz Israel umfassen, leisten vor allem in den Gemeinden, die die israelische Regierung nach dem 7. Oktober vernachlässigt, wichtige Unterstützung z.B. durch Notfall-Hotlines, psychologische Betreuung und Übersetzung von Informationen in verschiedene Sprachen. Speziell für russischsprachige Senior:innen, die häufig nicht auf soziale Netzwerke zurückgreifen können oder in den evakuierten Städten und Gemeinden zurückgeblieben sind, organisieren die Tzedek Centers Besuche von Freiwilligen und Aktivitäten zur Traumabewältigung wie Sasha Misheritzky berichtete.

Die demokratische Zivilgesellschaft Israels steht in diesen Zeiten vor enormen Herausforderungen und ist dringend auf Unterstützung angewiesen, damit der Einsatz für Menschenrechte und Gleichberechtigung auch im Schatten des Krieges weiter gehen kann. Der New Israel Fund Deutschland und Israel sind stolz darauf, die unermüdliche Arbeit der genannten Organisationen und vieler weiterer Initiativen zu fördern, denn nur durch eine starke demokratische Zivilgesellschaft kann eine friedliche Zukunft ermöglicht werden.

Die Aufzeichnung der Veranstaltung kann hier nachgeschaut werden.

Most popular